Auf dem Weg zur Mitte im Labyrinth des Lebens
Auf dem Weg zur Mitte im Labyrinth des Lebens
Sind Sie schon einmal durch ein Labyrinth gegangen? Ich meine keinen Irrgarten, in dem man sich verlaufen kann, sondern ein Labyrinth. In ihm werde ich vom Eingang aus auf scheinbar verschlungenen, jedoch sorgsam angeordneten Wegen in eine Mitte geführt. Labyrinthe finden in den letzten Jahren vermehrte Aufmerksamkeit und Faszination. Alte Labyrinthe wie z.B. in der Kathedrale von Chartres erhalten neue Anziehungskraft; neue Labyrinthe werden bewusst angelegt; eine Trauerpädagogin entdeckt mit betroffenen Menschen das Labyrinth als Symbol für einen Trauerweg; Tanztherapeuten entwickeln Labyrinthtänze; in Barcelona wird diesem Symbol zurzeit eine eigene Ausstellung gewidmet.
Dabei wird ein uraltes Symbol der Menschheit wieder entdeckt, das sich in vielen Kulturen findet. Dieses wurde im Lauf der Zeit mit verschiedenen Bedeutungen aufgeladen: Es kann für die Initiation in eine neue Lebensphase stehen, für den menschlichen Lebensweg von der Geburt bis zum Tod oder es dient als Meditationsübung, um zur eigenen Mitte zu finden. Christliche Labyrinthe zeigen in ihrer Mitte oft den auferstandenen Christus oder sie ist ein Hinweis auf das himmlische Jerusalem. Das Begehen eines Labyrinths galt im Mittelalter als „Ersatz“ für eine Pilgerreise nach Jerusalem oder Santiago di Campostela.
Was erlebe ich, wenn ich ein Labyrinth begehe? Schon beim Eintreten kann mir ein Licht aufgehen: Dieser Weg ist mein Weg; kein anderer kann ihn für mich gehen. Ich entscheide mich für einen Weg, lasse mich darauf ein, weiß aber nicht, was kommt. Es ist ein langer Weg mit vielen Windungen und Kurven; oft scheint die Mitte mit den nächsten Schritten erreichbar und dann werde ich wieder ganz nach außen geführt, und das mehrere Male; es ist wie ein Pendeln, ein oftmaliges Wechseln der Richtung, wobei man sich der Mitte ständig annähert und sich davon wieder entfernt. Fast unvermittelt eröffnet sich die Mitte dann wie eine Blüte, ein Raum der Freiheit, der Ruhe, des Aufatmens.
Im Unterschied zum Irrgarten gibt es kein Verirren, kein Sich-Verlieren. Doch wenn ich auf dem Weg bin, habe ich keine Übersicht, kann ins Zweifeln oder Wanken kommen oder es befällt mich die Angst, ob der Weg nicht zu weit für mich ist. Viel Geduld ist gefragt und Achtsamkeit und viel Vertrauen - Vertrauen, dass der Weg zum Ziel führt. Erst wer es wagt, unbeirrt immer weiter zu gehen, gelangt trotz aller Windungen auf eindeutigem Weg in die Mitte. Und erst im Nachhinein ist der Weg als klar und eindeutig erkennbar.
Vielleicht spricht dieses Symbol Menschen deshalb neu an, weil sie darin einen Spiegel für ihr Leben sehen: dieses stellt sie vor viele Wahlmöglichkeiten und Entscheidungen, so dass sie ihren Lebensweg als unüberschaubar und verwirrend erleben. Sie sehnen sich danach, dass ihr Weg kein Irrweg ist. Im Labyrinth finden sie die Verheißung, dass der Weg des Lebens, so verschlungen er auch ist, letztlich zu einem sinnvollen Ziel führt. Das Labyrinth vermittelt die Botschaft: Egal, was passiert in deinem Leben, du gehst nicht verloren.
Vom christlichen Glauben her symbolisiert dieses Symbol für mich dreierlei:
1. Das Labyrinth ist ein Symbol für das Geheimnis von Tod und Leben. In der Mitte begegnet uns Gott oder Christus, der Auferstandene, und damit die Verheißung, dass Leben auf uns wartet. Es ist überliefert, dass in französischen Kathedralen an Ostern ein Tanz durchs Labyrinth stattfand, um den Weg durch den Tod zur Auferstehung zu verinnerlichen.
2. Der Weg durchs Labyrinth ist kein gerader oder leichter und nur lichtvoller. Er führt meist von Westen nach Osten, vom Dunkel des Sonnenuntergangs hin zur aufgehenden Sonne, d.h. er blendet die dunklen und schweren Wege, die uns im Leben oft zugemutet werden, nicht aus und versinnbildlicht zugleich die Hoffnung, dass der Weg vom Dunkel ins Licht führt. Er lässt uns etwas davon ahnen, dass wir Gott auch im Dunkel unseres Lebens begegnen können.
3. Das Gehen im Labyrinth ist ein Weg des Vertrauens und kann so das Vertrauen ins Leben stärken. Ich darf den Weg gehen mit der Zusage Gottes: „Ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst“ (Gen 22,15) und mit der Hoffnung, die ein jüdisches Weisheitswort aus dem Talmud ausdrückt: „Der Mensch wird des Weges geführt, den er wählt“.
Von Marlies Bernhard