Katholischer Pflegeverband

Gepflegte Menschlichkeit

von Marcus Seitel

Kennen Sie das? Sie kommen auf der Frühtour in die Wohnung eines Patienten/Klienten. Noch etwas verschlafen fällt Ihnen die geöffnete Medikamentenbox samt Inhalt auf den Boden, was Ihnen strafende Blicke oder gar eine Schimpftirade des Patienten einhandelt. – Der Tag ist gelaufen.

 

Oder umgekehrt: Nach einigen freien Tagen betreten Sie das Zimmer eines Bewohners oder Patienten und hören: „Schön, dass Sie wieder da sind!“ Die gesteigerte Fassung lautet: „Gott sei Dank sind Sie wieder da!“ Vielleicht wird noch eine Erklärung nachgeschoben: „Die anderen können den Verbandswechsel genau so. Aber bei Ihnen fühle ich mich gut aufgehoben.“ Ihr Herz jubelt, denn Sie spüren, dass Sie am richtigen Platz sind. – Da bekommt der Tag gleich ein freundliches Gesicht.

Auf beiden Seiten geht es in der Pflege um die Menschen und es geht nur mit Menschen: bei jenen, die der Pflege bedürfen, und bei jenen, die sie leisten. Als Mensch ist man aber nicht nur in Funktion, sondern man ist zunächst Person mit all seinen Fähigkeiten und Ideen, aber auch mit seinen Bedürfnissen und Grenzen. Bisweilen hat man den Eindruck, als sei diese Erkenntnis in den Personalabteilungen noch nicht angekommen, so dass jeder Mitarbeiter prinzipiell austauschbar ist. Wer in der Pflege arbeitet, kann ein Lied davon singen (meist in Moll), was geschieht, wenn Teams auseinander gerissen werden, oder die Fluktuation so groß ist, dass die Belegschaft von einem Ende des Dienstplans zum bis anderen einmal ausgewechselt wurde.

Auch wenn die Managementebene meint, Pflege sei die Anwendung von Prozessabläufen, die Umsetzung von Standards und eine gute Gelegenheit, um Personal zu sparen: ohne Sie als Person geht es nicht! Wenn die Politik mehr oder minder unverblümt die Meinung vertritt, pflegen könne schließlich jeder: ohne ein gewisses Maß an persönlichem Engagement – man könnte in christlichem Sinne von Berufung sprechen – wird das System früher oder später scheitern.

Pflegeberuf als Berufung? Manchem mag dieser Gedanke im 21. Jahrhundert fremd vorkommen, doch lohnt ein Blick auf einige biblische Gestalten, die „berufen“ wurden.

Diesen „Berufungsgeschichten“ ist gemeinsam, dass es um ganz konkrete Menschen in ganz konkreten Situationen geht. Gott weiß um ihre Fähigkeiten, aber auch um ihre Grenzen, wobei er durchaus motivierend bis herausfordernd ist. Ausreden und Verzagtheit lässt er nicht gelten, wie zum Beispiel bei Jona, der sich seiner Aufgabe entziehen will, sich schließlich aber doch ans Werk macht [vgl. Jona 1; 2]. Das klingt ein bisschen nach moderner Mitarbeiterführung. Auf die Situation der Pflege übertragen kann das bedeuten, nach den Stärken der einzelnen Mitarbeiter zu suchen und diese zu fördern.

Ein zweiter Aspekt zeigt sich im Alter derjenigen, die herausgerufen werden. Abraham zum Beispiel macht sich im hohen Alter auf den Weg [Gen 12,1ff.]. Samuel ist deutlich jünger [1 Sam 3]. Jeremia fühlt sich sogar zu jung [Jer 1,4]. Simeon und Hannah sind im Greisenalter, sie ist vierundachtzig [Lk 2,25ff.]. Die ersten Jünger Jesu sind in den besten Jahren [vgl. Mt 4,18]. Wenn es in dieser Ausgabe von Pflege leben um das Thema der verschiedenen Generationen in der Pflege geht, liegt die Vermutung nahe, dass das Alter bei der Übernahme einer Aufgabe keine Rolle spielt. Das haben übrigens auch zwei Arbeiten zum Thema „Ältere Pflegende“ heraus­gefunden1. Dann wird der biblische Befund kaum irren.

Ein dritter Gesichtspunkt sind die unterschiedlichen Charaktere der Berufenen. Sie haben ihre eigene Lebens? und Glaubensgeschichte und zeigen sich durchaus verschieden impulsiv. Die Jünger Jakobus und Johannes werden zum Beispiel als „Donnersöhne“ bezeichnet [Mk 3,17]. „Wo Menschen sind, da menschelt’s.“ – Diese Weisheit lässt sich positiv deuten, nämlich in dem Sinn, dass die Unterschiedlichkeit der Kollegen bereichernd sein kann. Niemand ist mit allen Bewohnern oder Patienten gleich empathisch; und es wird eher selten vorkommen, dass jemand gar keinen Zugang zu seinem Gegenüber findet. Die jüngeren Kollegen werden vielleicht anders auf Patienten zugehen als die älteren; die einen sind förmlicher, die anderen ungezwungener. Solange das Team nicht aus dem Gleichgewicht gerät oder die einzelnen Pflegenden gegeneinander ausgespielt werden, sind die verschiedenen „Zugangswege“ bereichernd und kein Grund zu Neid.

Als vierter und letzter Gesichtspunkt bleibt die Frage nach dem Sinn einer Berufung. Hintergrund aller biblischen Berufungen ist, dass Gott sich „Werkzeuge“ in Form von Sprache, Händen und Füßen wählt, um seinem Wort Ausdruck zu verleihen. Das Wort ist das Evangelium, die Heilsbotschaft, die immer dort verwirklicht wird, wo der Wille Gottes im Alltag gelebt wird. Dazu gehört auch die praktizierte Nächstenliebe, die „Diakonia“ oder „Caritas“. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter [Lk 10,30 ff.] und das Jesuswort „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ [Mt 25,40] mögen hier als Beispiel dienen2.

Der Übertrag auf die Situation der Pflege hängt mit dem Stichwort „Sinn“ zusammen, den jeder aus seiner Sicht definieren wird: Die Verwaltung wird vermutlich zufrieden sein, wenn die Anzahl der Versorgungen in noch kürzerer Zeit mit noch weniger Personal geleistet wird; die Pflegedienstleitung, wenn alle Standards erfüllt werden, Abweichungen ausreichend begründet sind und von Seiten der Pflegeempfänger und der Zugehörigen keine Klagen kommen; die ärztliche Direktion, wenn ein weiteres Qualitätssiegel die Eingangshalle schmückt. In Zeiten ökonomischer Zwänge werden diese Kriterien zu erstrebenswerten Zielen stilisiert, doch in (zwischen?) menschlichen Kategorien gedacht – und vor dem Anspruch, dass Pflege ein Stück gelebtes Evangelium ist – sind sie ziemlich dürftig.

Wenn der Pflegeberuf und somit die Pflege(fach)kraft nicht auf eine Funktionsausübung reduziert werden soll, muss jemand die Frage stellen: „Was ist der Sinn unseres Tuns?“ Das gilt in Bezug auf die Patienten und Bewohner, das gilt aber auch in Bezug auf das Team.

Ideen zur Sinnfindung gibt es reichlich: Wie gelingt es, sich über die Generationen hinweg zu unterstützen, damit alle wachsen können und keiner auf der Strecke bleibt? Finden die Jüngeren die Hilfestellung und Vorbilder, die sie brauchen? Haben die Älteren Unterstützer und Fürsprecher, wenn sie an ihre Grenzen kommen? Welche Ideen hat eine Einrichtung, um den bisweilen unterschiedlichen Bedürfnissen der verschiedenen (Pflege?) Generationen gerecht zu werden? Anders gefragt: Wird im Umgang miteinander und im pflegerischen Handeln etwas Heilsames sichtbar, im Sinne einer konkreten Umsetzung des göttlichen Liebes­gebotes als Kern des Evangeliums?

Ich wünsche Ihnen, dass drei Erfahrungen Ihr (Berufs?) Leben begleiten mögen:

  • die belebende Ermutigung, am richtigen Platz zu sein.
  • das beruhigende Gefühl, im Team Unterstützung, Wertschätzung und Sicherheit zu finden.
  • die glaubende Gewissheit, ein Stück Frohe Botschaft zu verwirklichen und an Gottes Reich mitzubauen.

Marcus Seitel

 

 

Der Autor ist Krankenpfleger für Onkologie und Palliativ Care und arbeitet bei der Brückenpflege am onkologischen Schwerpunkt Schwarzwald-Baar-Heuberg, Villingen-Schwenningen. Mitglied im KPV seit 2000, Landesgruppe Baden-Württemberg.

 

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